Der Versehgang
Atemlos stürzte das Mädchen ins Pfarrhaus.
"Här, Här, kott, kott, die Mamm stürvt!" keuchte sie mit tränenerstickter Stimme. Der Pfarrer, ein ziemlich beleibter Herr, schaute sich erschrocken um. Die Mutter des Kindes war noch recht jung. Ungläubig sah er das Kind an, während er seinen Rock griff.
"Was ist geschehen, Katharina?"
"Die Motter ös be-im Melke zesammejefalle, kott, kott sier!"
"Lauf schnell hinüber zu Simons. Der Anton soll zum Versehgang in die Sakristei kommen."
Anton war Meßdiener und da er nahe der Kirche wohnte, derjenige, der bei Versehgängen meist den Dienst tun mußte.
Als Anton in die Sakristei kam, hatte der Pfarrer schon sein weißes Chorhemd angezogen und die schwarze Stola umgelegt. Er ging zum Tabernakel, um eine Hostie in die Burse, eine kleine Kapsel, die er an einer Schnur um den Hals trug, zu legen. In aller Eile zog Anton sein Meßdienergewand an und nahm die Versehlampe und zündete sie an.
"Zu Beschs", sagte der Pfarrer und schon war man eiligen Schrittes auf dem Weg.
So könnte der Beginn eines Versehganges hier vor etwa sechzig Jahren gewesen sein. Das Versehen ist ein kath. Sakrament. Der Begriff ist rückführbar auf "Jemanden mit etwas versehen, ausstatten" . Der Pfarrer und ein Meßdiener oder der Küster machten sich auf zum Sterbenden. Das Versehen wurde i.d.R. durchgeführt, wenn der Todkranke noch bei Bewußtsein war. Es war meist verbunden mit der "Letzten Ölung". Nachdem der Pfarrer die Krankenstube betreten hatte, segnete er mit einem Buchsbaumzweig, der in einer Schale mit Weihwasser neben dem Kruzifix und zwei brennenden Kerzen auf dem Tisch stand, das Zimmer und die Anwesenden. Dann wurden alle hinausgeschickt und dem Sterbenden die letzte Beichte abgenommen. Währenddessen beteten die Angehörigen in einem Vorraum. Nach der Beichte betraten sie wieder das Sterbezimmer. Bei der folgenden "Letzten Ölung" tauchte der Priester seinen Daumen in geweihtes Öl und salbte betend Stirn, Augen, Nase, Ohren, Schulter, Hände und Füsse des Sterbenden. Zum Schluß legte der Priester dem Sterbenden ein Hostie als Wegzehrung (viaticum) auf die Zunge, eine Handlung, die an den uralten Brauch erinnert, Toten eine Münze als Wegegeld auf die Zunge zu legen, um Charon, den Fährmann, zu bezahlen, der sie ins Totenreich übersetzte.
Heute ist der Versehgang eine Seltenheit und die einmalige "Letzte Ölung" ist durch die Krankensalbung, bei der der Priester dem Kranken Stirn und Hände salbt, ersetzt. Die Krankensalbung kann mehrmals empfangen werden, wodurch das Bedrohliche, das mit der "Letzten Ölung" gegeben war, aufgehoben worden ist.
Als der Pfarrer und Anton außer Atem bei den Beschs ankamen, hatte man Christin, so hieß Katharinas Mutter, in der Stube auf das Kanapee gebettet. Der Pfarrer trat hinzu und sprach sie an:
"Christin, was ist geschehen?" Keine Antwort, nur das Schluchzen der Umstehenden. "Lebt sie nicht mehr - ist sie tot?", fragte er leise, worauf das Schluchzen lauter wurde. Er stutzte ein wenig,einer Toten ein Sakrament zu spenden, das ging doch nicht. Doch dann faßte er sich und begann mit lauter Stimme: " Kraft der mir verliehenen Vollmacht gewähre ich dir vollkommenen Ablaß und Vergebung aller Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes." Dann nahm er ein kleines Stück der Hostie und schob es in Christins leicht geöffneten Mund. "Corpus dei!" Dann segnete er sie und murmelte: "Auf daß der Weg dir leicht werde."-
Und wie zum Trotz begann er im Angesicht des Unfaßbaren " Ich glaube an Gott den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn....." und alle fielen ein.
B.M.